Der lemurische Baum des Lebens

Einst wuchs und blühte auf den weiten Ebenen der leurionischen Insel der Baum des Lebens. Er war und ist das heiligste Symbol aller Lemuri. Denn in ihm vereinte sich nicht nur alles, an was die Lemuri glaubten und was sie darstellten, er war auch der Hort der Seelen aller Wesen, die eine seelische Verbindung zu den Lemuri hatten.

In ihm wohnten die Seelen der Gestorbenen und Gegangenen. Jeder Lemuri konnte Kontakt zu seinen Ahnen aufnehmen, denn durch das Berühren des Baumes war ein Gespräch auf geistiger Ebene möglich und sogar alltäglich.

Der Baum war etwa 150 Meter hoch, sein Stamm hatte einen Durchmesser von knapp 8 Meter. Das Blattwerk begann in etwa 30 Metern Höhe, war so dicht, dass man darunter den Himmel nicht sehen konnte und reichte bis 50 Meter um den Baum herum.
Der Stamm und die Äste hatten einen maronenbraunen Farbton. Die Rinde war eher glatt und fühlte sich weich an und doch war es unmöglich, etwas von der Rinde zu entfernen.
Die Stängel der Blätter waren etwa 5 Zentimeter lang und sahen aus als wären sie aus Mithril. Tatsächlich waren sie jedoch sehr weich und elastisch und gaben sanft raschelnd dem kleinsten Windhauch nach. Die Blätter selbst hatten einen Durchmesser von etwa 10 Zentimetern, besaßen eine angedeutet Sternform und schimmerten wie reines Adamant, in seinem sanften, hellgoldenen Ton.

Stängel und Blätter leuchteten in ihren Farben, was den Baum in einem weiten Umkreis mit einem fast sphärischen Licht umgab. Es war das Licht der Göttin, ein Licht, das nicht nur sichtbar war, sondern auch in die Seele drang. Im Umkreis des Baumes waren Seele und Herz von Liebe, Leben und Freude durchdrungen. Ein Licht, das kein Herz vergessen kann und Wunden, sowohl körperliche als auch seelische heilte.

Der Baum kannte keinen Winter und trug das ganze Jahr über ein dichtes Blätterdach. Von Zeit zu Zeit warf er jedoch ein paar seiner Blätter ab. Diese hatten zwar nicht mehr die ganze Wirkung des Baumes, aber sie verdorrten nicht und behielten ihr Licht. Über die Äonen konnte man so in jedem Haus auf Lemur ein Blatt des Baumes finden, das unsterblich war und sein Licht auch in die Wohnstädten der Lemuri trug.

Der Baum wurde bei der Vernichtung Lemurs und dem Untergang der Lemuri zerstört. Aber wenn die Lemuri wieder auferstehen, so besagt die Legende, wird auch der Baum des Lebens wieder wachsen und sein Licht die Herzen aller liebenden Völker bescheinen und erhellen.

Von der Pflanzung des Baumes:

Stille breitet sich aus in dem Heer der Lemuri, die wie eine bunte Woge aus Blumen in ihren Kleidern auf der riesigen, leicht gewellten Wiese ihren Platz gefunden zu haben scheint. Wie von Geisterhand ist aber ein Rondell in der Mitte freigelassen, welches vielleicht einhundert Schritt durchmisst.
Am Rand dieser Lichtung aus Leibern stehen die Ledain, Hand in Hand mit anderen Lemuri und in allen Gesichtern ist die Spannung geschrieben, aber auch eine unendliche Freude, auf das, was nun jeden Augenblick passieren wird.

Wie auf ein geheimes Signal hin rucken die Köpfe der Lemuri herum und schauen gebannt nach außen. Von dort aus dreizehn Richtung kommen kleine Prozessionen aus jeweils dreizehn Lemuri, gekleidet in wallenden, weiten Gewändern und in den Farben der Ledain, die nun eine Gesamtheit aus Farben bilden. Das gesamte Volk raunt auf, freudige Schreie und Rufe sind hier und dort zu hören, denn an der Spitze jeder Prozession wird ein Baum getragen.

Etwa zwei Schritt hoch und gekrönt mit einem Blätterdach, welches kein Baum jemals getragen hat. Denn silberne und goldene Blätter sprießen dort aus den Ästen, die aus sich heraus leuchten und strahlen in einem sanften und doch hellem Licht, das Tag und Nacht miteinander verbindet und alle Schatten zu vertreiben vermag. Ein Licht solcher Intensität, als sei ein Herz aufgebrochen und würde sich um alles schließen, es in seiner Liebe gefangen nehmen und doch Freiheit sein, die Liebe einer Mutter, die über allem steht, gibt und nicht nimmt. Eine vollkommene Geborgenheit, in die man sich nur fallen lassen muss, um auf immer gehalten zu sein.

Wie von selbst öffnen sich in den Reihen der Lemuri dreizehn Gassen, die bis zu der Lichtung führen und in die die Prozessionen mit den Bäumen an den Spitzen nun hineintauchen. Die Leiber werden eine Masse wie es scheint, die sich in einer unsagbaren Freude zu bewegen scheint, wie eine verspielte Welle, die vom Wind übersehen wurde. Langsam nähern sich die Bäume immer mehr dem innersten Kreis und doch ist auf dem Weg jeder einmal einem der Bäume ganz nah.
Tränen sind in vielen Gesichtern zu sehen, Tränen, die Trauer wegwischen, wie ein Orkan der über das Land hinwegfegt, aber Platz schafft für neues Leben, das dort in einem neuen Sturm des Lebens geboren werden kann und aufwachsen wird.

Langsam nun werden die Sprösslinge in den Kreis getragen und dort in einem eigenen Kreis abgesetzt. Die Prozessanten ziehen sich zurück und mischen sich mit freudigen und doch auch von der Situation gefesselten und andächtigen Gesichtern in die anwesenden Lemuri zurück. Thorn lässt Lapianas Hand los und geht auf dem Baum zu, der ihm am nächsten steht und Lapiana kann regelrecht fühlen, dass es jener ist, dem sie beide verholfen haben, seine Blätter aus dem Boden hervor zu strecken.
Ebenso gehen nun die anderen Ledain vor und jeweils auf einen der Bäume zu. Als sie sie erreichen streicheln alle gemeinsam, wie auf ein geheimes Zeichen hin, sanft über die Blätter... über jedes einzelne und dann den Stamm entlang.
Als sie ihre Hände wieder lösen, beginnen sie zu leuchten wie es auch schon die Bäumchen vor ihnen machen und heben die Gesichter in den Himmel. Gemeinsam sprechen sie Worte, deren Klang in den Herzen wiederhallt und von solcher Macht sind, dass sogar der Boden leicht erzittert. In diesem Moment schweben die Bäume aufeinander zu, heben sich immer mehr vom Boden ab und streben einer gemeinsam Mitte entgegen. Als sich die ersten Äste und Blätter berühren, fließen diese ineinander und beginnen Eins zu werden, wobei das Licht heller zu erstrahlen scheint und sich eine Kugel aus goldsilbernem Licht bildet, die sich weiter ausdehnt, über die Lemuri flutet und alles in ein verzaubertes Licht taucht. 
Die Ledain heben ihre Arme und dann geschieht das wundervolle. Die Bäume vereinigen sich und werden zu einem einzigen Baum, der gewaltig in die Höhe schießt. Ebenso bilden sich Wurzeln, die nach unten und in den Boden gleiten, sich verankern und mehr als nur zeigen, dass sie nicht Willens sind, sich jemals aus dieser Erde wieder zu lösen. Dabei wird der Stamm hinab gezogen und sitzt schon bald wie ein gewaltiges Fundament auf diesen Wurzeln und schießt geradewegs in die Höhe.
Des Baumes Blätterdach reicht weit über die Lichtung hinaus und überdeckt einen Teil der Lemuri, die nun unter ihm stehen.
Freudenschreie sind zu hören und hier und dort auch hemmungsloses Weinen.

Licht schimmert nun offenbar über ganz Yisalamant. Ein ewiges Licht und keine Nacht wird mehr über diesen Ort fallen. Der Heilige, der Baum des Lebens ist zu dem Lemuri zurückgekehrt.

Doch noch immer scheint die Macht des Ortes und des Momentes nicht aufgebraucht. Denn nun fließt eine Woge aus dem Baum und lemurische Auren strömen auf die Wiese. Hundert und mehr als hundert mal mehr, als Lemuri hier sind.

Sie sind da!

Die Seelen der Lemuri!

Sie breiten sich mit aller Macht aus und gleiten zu jenen, die noch leben. Jene, die sie lieben und nicht den Schritt gehen mussten, der sie in den Baum führte. Überall nun sind Lemuri zu sehen, die einfach die Arme um sich schließen, als würden sie jemanden halten; die auf die Knie fallen und die Leere in ihren Händen wie ein kleines Kind halten, oder sanft und geborgen, wie ein Kind, das noch nicht den Weg des Lebens allein zu bestreiten vermag. Tränen unendlicher Trauer fließen aus unzähligen Gesichtern. Trauer, die sich ganz plötzlich wandelt in Tränen des Abschiedes und dann in Tränen der Hoffnung. Tränen, die endlich vergossen werden können, endlich vergossen werden dürfen, weil der Moment der Vereinigung, des Wiedersehens und doch auch des Loslassens gekommen ist. Ein Volk, das nun wieder vereint ist in der Ewigkeit seiner Bestimmung und seiner Existenz.

Aus dem Schluchzen und Weinen wird eine Stimme. Eine Stimme, die an Gewalt und Macht zunimmt und dann langsam und doch unaufhaltsam in einen Gesang übergeht, der sich durch den Boden unter den Füßen fest zu setzen scheint und der die Lemuri auf immerdar mit ihrer neuen Heimat Lemurain verbindet. Die Wurzeln des Baumes in der neuen Erde, die Geister der Gegangenen im Baum und zurückgekehrt, das Volk auf diesem Boden, geeint mit der Seele Lemurains. Eine Einheit, deren Zukunft nun ein Sinnbild darstellen kann, für die Macht und den Glanz von einst. Ein neuer Weg mit neuen Errungenschaften und Weisheiten, der sich ausbreiten in einem Moment und einem Lied, das jeder zu singen vermag, dessen Herz der Liebe fähig ist, dessen Herz leben will und dessen Herz offen ist, den wirren des Daseins die Stirn zu zeigen und mit Stolz zu sagen: Wir sind wieder da! Wir sind wieder eins! Wir sind die Lemuri!

Hier ein Auszug der Baumbeschreibung einige Jahre später, als der Baum ausgewachsen ist:

Thorn nimmt dann Lapiana und Diam bei der Hand und teleportiert. Sie kommen in einer leicht welligen Graslandschaft heraus, die in naher Umgebung von kleinen Hainen umflankt wird. Das Gras ist grün und fett. Es ist warm, aber nicht heiß. Aber schon der erste Atemzug ist besonders, denn die Luft ist so rein und klar, als ob sie hier gerade erst entstanden ist. Als ob sie sie zum ersten Mal atmen würden. Über ihnen ist der Himmel und doch ist es weder Tag, noch ist es Nacht. Es ist ein Dazwischen. Weder Mond noch Sterne gibt es und auch keine Sonne, als ob es sie noch nicht geben würde. Um sie herum scheint der leichte Wind mit Stimmen zu singen. So lieblich und klar, so voller Hoffnung und Güte, so voller Klarheit und Weisheit und doch nur ein leichter Schauer, der die Haut berührt. Aber trotzdem ist auch Licht da. Ein Licht, wie es richtig ist, wie es sein sollte, wie es war, als die Götter es ersannen. Denn sie blicken auf eine etwa 500 Schritt durchmessende, etwa 20 Schritt am untersten Punkt tiefe Mulde. In der Mitte steht der Baum. Der Baum ist so voller klarer Eleganz und Reinheit, wunderschönem Äußeren, als ob er der Vater aller Bäume sei. Er ragt etwa 150 Schritt in die Höhe und die äußersten Äste erreichen sie fast. An den Ästen hängen speerblattartige Blätter, die auf der Unterseite silbern, auf der Oberseite aber golden leuchten und von diesen geht das Licht aus, das sich hier zu Nacht und Tag vereint. Vereinzelt oder auch in kleinen Gruppen stehen Lemuri in der Senke oder auch am Rand. In dem Licht, dem Wind, unter diesem Himmel wirken sie wie marmorne Statuen, uralt und schon immer seiend. Aber zugleich so lebendig und jung, als wären sie gerade eben erst aus dem Boden erwachsen als Kinder jener, die dies hier ersonnen und erschaffen hat. Und noch eines ist spürbar: SIE ist da. Allgegenwärtig. Der Wind ist wie eine Berührung mit ihrer Hand. Zu sehen heißt, SIE zu sehen. So, wie man eine tiefe Verbundenheit mit IHR fühlen kann, wenn man vom Nexus trinkt, so ist SIE hier allgegenwärtig. Thorn steht da, nicht stolz, nicht erhaben, sondern glücklich. Er blickt zum Baum und einzig was zu fühlen ist, dass er zu eben jenen Kindern gehört. Leise sagt er: "Das ist der Baum des Lebens. Das Allerheiligste der Lemuri. Die Heimstadt jener, die gegangen sind und ihr ständiger Sitz in unserer Welt."