Grenzweiher

Tief lag der Nebel über dem Weiher. Einzelne Vögel zwitscherten zaghaft, doch ohne wirkliche Kraft in ihren Stimmen. Müde hingen einige Halme der Schilfbüsche in dem trüben Wasser, das durch keinen Windhauch bewegt wurde. Vollkommen glatt lag die Oberfläche des Weihers dort, wie eine Eisfläche, die sich durch klare und reine Kälte über Nacht gebildet hatte. 12 Schritt waren es nach Norden hin, wo der dunkle Schieferwald begann. 12 Schritt nach Süden, wo die Tiefspalte begann. Eine bodenlose Schlucht, die noch keiner vermessen hatte, da sie einfach ein Riss unbekannter Tiefe in der Erde war, als sei sie dort wie gespannte Haut in der Winterkälte aufgerissen. Nach Osten und Westen hin aber war das Land offen. Verlief sich in die Weiten der fruchtbaren Wiesen und Auen.
Grenzweiher, so hieß die kleine Wasserfläche schon seit ehedem und jeher. Niemand wusste mehr, wer dem Weiher diesen Namen gegeben hatte. Niemand wusste mehr, warum der Weiher diesen Namen erhalten hatte. Aber er wusste, denn er war ein Niemand. Niemand mehr… .

Müde wirkend schlug der Mann den Kragen seines Mantels hoch, um so dem Nebel, der ihn wie greifende Finger seelenloser Geister zu fassen versuchte, zurück zu halten. Seine Gedanken eilten zurück in eine Zeit, die heute vergessen war. Eine Zeit, als der Nebel noch die sich langsam hebende Daunendecke einer wohligen Nacht gewesen ist. Personen bildeten sich vor dem geistigen Auge des Mannes und verschwanden auch wieder. Trotzdem zauberten diese Visionen ein Lächeln auf seine Lippen. Wie lang das doch alles schon her war. Damals, als die Welt noch vereint war, fast vereint war. Als noch kein Riss die Erde spaltete und so ein wirkliches Monument einer Spaltung geworden war, die zunächst nur in den Herzen aller entstanden ist.

Hier lagen sie versunken, die Hoffnungen und Wünsche für eine Zukunft, die nicht sein sollte, nicht sein durfte, wie es scheint. Wie lange hatten sie nicht begriffen, wofür sie eigentlich gestanden hatten. Was sie verkörpert hatten in ihrer Einigkeit und in ihrem Zusammenhalt. Wofür sie gekämpft haben und was sie tagtäglich gelebt haben. Hier versunken im Weiher, damals, als der Spalt sich geöffnet und die Erde verschlungen hat was die Trennung, den Riss vorantrieb. In einem wütenden Aufbäumen wider den Geschehnissen, die sich um sie gesammelt hatten. Einem Dämon gleich, der sie gejagt, ihnen nie auch nur eine wirklich ruhige Minuten gegönnt hat und sie immerzu davon abhielt, einmal wirklich über ihr Dasein nachzudenken.

Wie ein Grabmahl war dieser Ort für ihn. Eine Gedenkstätte der Freundschaft, die nun nicht mehr existierte, aber die niemals wirklich gestorben war. Die so noch immer eine kleine Flamme der Hoffnung darstellte, die vielleicht doch einmal – irgendwann – wieder auflodert und Herzen entflammt.

Der Weiher war die Grenze. Die Grenze zwischen Altem und Neuem. Zwischen dem Offensichtlichen, das alt, dunkel und träge aber deutlich da liegt und dem Verborgenen, das neu, aber tief, unübersichtlich und nicht ausmessbar plötzlich entstanden war. Hier war der Ort, wo alles zu Ende gegangen ist. Wo ihre Gemeinschaft ein Teil der Geschichte dieser Welt wurde. Eine Geschichte, die nun aber von Tag zu Tag mehr verblasste. Hatten die anderen am Ende also doch gesiegt? War alles vergebens gewesen?

Er war erschöpft von so vielen Lebensjahren voller Kampf und Blut, aber auch Liebe und Freundschaft. Er hat Leben vergehen, aber auch entstehen sehen. Hat Liebe sterben, aber auch entflammen sehen. Müdigkeit steckte in ihm, wie er sie zuvor noch nie gespürt hatte. War es an der Zeit für ihn zu gehen? Hatte er genug gelebt? Verweilte er schon zu lange auf dieser Welt, obwohl er nach Jahren gemessen noch jung war für sein Volk? Zweifel überkamen ihn. War sein Leben ‚richtig’ gewesen?
Fragen, die ihn quälten seit Jahren und niemand war dort, mit dem er darüber reden konnte, denn wo sie war, das wusste er nicht. Sie, mit der er immer hatte reden können und die anderen waren tot oder vergessen, oder auch an Orten, die er nicht kannte. Nur ihre Hoffnungen und ihr gemeinsames Leben lagen hier in dem Weiher.

Langsam wand er sich wieder ab. Zu viele Erinnerungen, zu viel Trauer und Tränen, zu viel für ihn, der keine Antworten auf seine Fragen fand. Aber ein Geräusch am Rand des Waldes ließ ihn wieder den Oberkörper drehen. Dort im Schatten der Bäume stand eine Mari. Sie blickte ihn nur an. Kein Wort kam über ihren Lippen. Aber die Härchen in ihrem Gesicht vibrierten leicht. Wieder schossen Erinnerungen wie ein Orkan in seine Gedanken und schnell senkte er das Haupt. Übermannt von seinen eigenen Gefühlen.
Viel schneller nun wendete er sich ab und wollte eilends davon schreiten. Doch lief er dabei fast in die Arme einer Gestalt, die sich ihm lautlos von hinten genähert hatte. Er blickte in Augen, die er besser kannte als seine eigenen. Als die Frau, die fast den gleichen Mantel trug, wie auch er ihn an hatte, ihren Arm ausstreckte und sein Wange berührte, war es wieder da: Das Gefühl der Geborgenheit! Lehrerin und Geliebte zugleich. Vertraute und Antreiberin. Er kannte sie und sie kannte ihn.
Auch sie hatte es an diesen Ort gezogen, ganz so, als würde es ihr nicht anders gehen als ihm selbst. Der Blick in ihre Augen verriet es ihm. Sie war wegen der gleichen Fragen hier, die auch ihn quälten. Kein Wort wurde dabei gesprochen, denn kein Wort war nötig. So vertraut waren sie einander durch das was sie gemeinsam erlebt hatten. Beide begannen zu lächeln. Er nahm ihre Hand – sie waren vereint. Endlich wieder! Aber da war noch mehr… viel mehr vielleicht. Ihre Blicke streiften gemeinsam zum Waldrand, wo noch immer die Mari stand. Nun aber lächelte das Katzenwesen, ganz so als würde sie wissen. Erinnerungen wurden Wahrheit und die kleine Flamme der Hoffnung, die auch in ihnen selbst lebte, aber so lang verschüttet war, begann zu brennen und wärmte ihre Herzen. Sie wussten, dass noch jemand leben könnte – leben würde – und wenn er noch lebte, dann würde er hier leben. Hand in Hand hielten sie auf den Waldrand zu, wo sich die Mari abwendete und voranging. Sie würde ihrer beider Führerin sein und sie konnten nur hoffen, dass sie diesmal das Ziel nicht verfehlt. Aber zumindest war der Anfang getan. Ein Schritt, der die Fragen beantworten könnte, aber zumindest der die Fragen nicht mehr eine Qual sein lassen würde. Denn von dort konnten sie weiter gehen. In die Berge, wo noch eine Leben dürfte, die sie kannten wie sich selbst und vielleicht trafen sie dann auch noch die anderen, die irgendwo waren, hier auf dieser Welt.
Ein Neubeginn! Manche Geschichten enden nicht! Sie legen nur eine Pause ein und gehen dann weiter.
Unterbewusst streifen sich die beiden mit der jeweils freien Hand die Haare aus dem Gesicht und ihre feinen, spitzen Ohren kommen zum Vorschein. Und mit einem Lächeln tauchen sie in die Dunkelheit des Waldes ein. Auf der Suche nach alten Freunden, verlorenen Freunden und bald auch neuen Freunden.
Manche Geschichten enden nie! Sie beginnen immer wieder. Im Nebel… so wie damals – es war eine gute Geschichte gewesen!